Dr. med. Ludwig Manfred Jacob
Der gute Geist auf dem Jakobsweg und in der Kathedrale von Santiago steckt an, und das seit über tausend Jahren. Unter den Pilgern war auch der heilige Franziskus, den ich sehr schätze. Auf dem Camino (= Camino Francés, dieser Weg ist die Hauptroute aller Jakobswege) wird viel gelaufen, gebetet, gesungen, umarmt, gelacht und auch gelitten, vor allem leiden die Füße und der Schlaf kommt oft zu kurz.
Ganz unterschiedliche Motive treiben die Pilger dabei an. Manchmal geht es um die Suche nach Gott, den Wunsch nach Kraft und Vergebung, darum, Ballast zurückzulassen, die Schönheit des Weges zu genießen, aber auch Entschleunigung und Vereinfachung des Seins oder die Suche nach sich selbst sind starke Motive.
Santiago de Compostela ist der zweitgrößte Pilgerort der katholischen Kirche. In meinem Leben habe ich schon einige Pilgerorte diverser Religionen besucht und überall hört man ziemlich „unglaubliche“ Geschichten.
Wundersame Legenden
Jakob der Ältere, einer der 12 Apostel Jesu, predigte in Spanien und Galizien, konnte aber dort nur 7 Jünger für das Christentum begeistern. Zurück in Jerusalem schlug ihm Herodes den Kopf ab und machte ihn zum ersten Märtyrer des Christentums. Nicht gerade eine Erfolgsgeschichte. Seine Überreste sollen dann zwei Schüler nach Santiago gebracht haben. Erst acht Jahrhunderte später, im Jahr 813, berichtet ein Einsiedler namens Paio über den seltsamen und mächtigen Lichtschein eines Sternes im Wald (daher der Name Compostela, campus stellae, „Sternenfeld“). Im Dickicht, bei einer Eiche, entdeckte er einen Altar und drei Grabmale. Eine wundersame Geschichte reiht sich dann an die andere.
Auf jeden Fall hat Jakob den Spaniern geholfen, die Mauren zu besiegen – er erschien auf einem weißen Pferd in der Schlacht – und ab diesem Zeitpunkt war er DER Schutzheilige Spaniens.
Ich fühle mich ihm verbunden, schon durch meinen Namen.
Unser Glaube versetzt Berge und heute vor allem Geldberge
Glauben heißt vertrauen – vielleicht dem, was nicht ist aber werden soll, unserem Schicksal, Gott, dass hinter allem, was im Leben passiert, ein Sinn, eine Lernaufgabe für uns zu entdecken ist …
Wir glauben vielleicht, dass wir über das „naive Glauben“ hinausgewachsen sind. Doch der Glaube ist und bleibt die Grundlage von allem, was wir tun, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. In der Medizin nennt man ihn „Placebo-Effekt“, der in Form des Glaubens an Arzt und Medikament auftritt; dieser Effekt ist meist wirkungsvoller als der Wirkstoff selbst, vor allem initial. Jesus sagte schon: „Dein Glaube hat Dich geheilt.“
Heute ist unser Glaube kurzlebiger und schwächer geworden, wir brauchen immer öfter einen neuen Glaubenskick: ein neues Idol, eine neue Mode, ein neues Smartphone, ein neues Wundermittel. Gottes- und Nächstenliebe wurden vom Glauben ans Geld und vom „pursuit of happiness“ als höchstes Lebensziel ersetzt. Dabei ist es doch wissenschaftlich längst erwiesen, dass die Jagd nach dem Glück nur eines macht: UNGLÜCKLICH.
Mit Abstand betrachtet ist es schon etwas bizarr und naiv, dass sich ein Großteil unseres Lebens darum dreht, Geld zu verdienen – ein Wert, der lediglich auf dem Glauben an die Zentralbanken basiert und von denen sprichwörtlich „geschöpft“ wird. Noch bizarrer: Man nennt es Fiatgeld, ganz wie in der Bibel, wo Gott sagt: „Fiat lux!“; „Es werde Licht!“. Nur hier sagt die Zentralbank: „Es werde Geld.“ Toll, dass man mit so einem Glaubenssystem dann die Milliarden per Mausklick um den Globus jagen kann, um z. B. etwas ganz Lebenswichtiges wie Nahrungsmittelpreise zu manipulieren. Dass Millionen von Menschen dadurch hungern, spielt hier für die, die diese Glaubensgeldberge global verschieben, eine eher untergeordnete Rolle.
Jeder glaubt an etwas …
Der Glaube ist unsere wichtigste psychische Kraft und erstmal etwas Wertneutrales. Die Anhänger aller möglichen Ismen (Nationalismus, Kommunismus, Faschismus, Atheismus, Kapitalismus, diverse Glaubensrichtungen, auch moderne wie Apple, etc.) sind alle Gläubige. Doch schon das Alte Testament thematisiert die Gefahr, sich sein eigenes Bild von Gott zu schaffen. Damit ist weniger ein Götzenbild gemeint, als unsere eigene mentale Projektion, die wir für Gott halten und verehren. Dabei ist diese tatsächlich nur eine Ausgeburt unserer Psyche und des Unterbewusstseins.
Meine Lebenserfahrung hat mir gezeigt: Immer wenn ich felsenfest von etwas überzeugt war, hatte ich unrecht und fiel auf die Nase. Die Stimme unserer Gedanken ist laut und überzeugend, sie schreit und kommandiert. Dagegen durfte ich auch immer wieder diese leise, unaufdringliche Stimme im Innersten hören, die so leicht im lauten Alltag zu überhören ist, aber mich immer wieder durch große Gefahr und Freude begleitet hat. Die höchste Person erfahren wir in der Stille und im innigen Gebet. Sie lässt uns immer die Wahl und die Freiheit des Willens. Dies ist mehr als Glaube, dies sind Erfahrungen im Innersten.
Jeder lebt nach seinen Glaubensätzen. Erkennen kann man diese am besten an ihren Früchten, wie schon Jesus lehrte. In diesem Sinne sind Religionen auch nur Bezeichnungen, hinter denen sich sehr viel Menschliches und Böses verstecken und rechtfertigen lässt. Entscheidend ist allein der gelebte Glaube: Welche Früchte trägt er?
Die Tragödie von Barcelona, wo ich selbst schon des Öfteren über die Las Ramblas geschlendert bin, bringt dies schmerzhaft zu Bewusstsein. Hier drängt sich die Frage auf: Welche Art von Religion ist gut, welche schadet?
„Glaube und Religiosität“ – mehr Schaden als Nutzen?
Eine große Anzahl wissenschaftlicher Studien belegt inzwischen die positiven Effekte von Religiosität. Allerdings kommt es stark auf das „Wie“ an. Nicht jede Art von Glauben ist gesund.
Prof. Grossarth-Maticek hat in seinen großen und wissenschaftlich exzellenten Studien die Geheimnisse nachhaltiger Gesundheit erforscht und das sogenannte „Autonomietraining“ (Methode zur Anregung der Selbstregulation und zur Erreichung von Wohlbefinden und Sinnerfüllung) entwickelt, welches sich besonders auch bei Krebskranken bewährt hat. Dabei hat er auch die Effekte von Glauben untersucht:
„In empirischen Studien konnten wir nachweisen, dass Personen, die Liebe und Bewunderung zu Gott erlebten und sich von Gott geliebt und geschützt fühlen, wesentlich länger glücklich und gesund leben als Personen mit einer sündenorientierten Religiosität, die auf Schuldzuweisungen konzentriert ist, verbunden mit einer enormen nicht verarbeiteten Aggressivität als Folge für Sünden. Solche Menschen sind nicht nur häufiger krank, gehemmt in ihrer Kreativität und Erkenntnis, sondern auch bei ihren Familienmitgliedern ist eine bedeutende Zunahme chronischer Erkrankungen bemerkbar.“
(Literatur: Grossarth-Maticek, Gottesbeziehung, Gesundheit und Innovation – Ergebnisse aus prospektiven Interventionsstudien (Referat auf dem Internationalen Kongress „Menschsein und Religion – Anthropologische Probleme und Perspektiven der Glaubenskultur des Christentums“, Universität Wien, 11. April 2014)
„In unseren Forschungen konnten wir feststellen, dass Personen, die eine freie liebevolle Beziehung zu ihrem erlebten Gott aufweisen, und mit ihrem Glauben nicht andere Personen unterdrücken, häufig über emotionale Sicherheit, Eigenkompetenz und eine komplexe Vorstellungskraft verfügen.“
(aus: Ronald Grossarth-Maticek, Kompetent Gesund: Krankheitsentstehung und Gesundheitsentwicklung im psychophysischen System – Das Autonomietraining als Prävention)
Evolution – der neue Glaube macht den Menschen zum neuen Gott
Nun haben viele in der Moderne den Glauben an ein „höchstes Wesen“ oder eine „höhere Kraft“ durch die Evolution ersetzt – da stehen wir Menschen erstmals ganz oben in der Hierarchie.
Das nenne ich mal Karriere machen!
Nach mathematischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen dürfte es milliardenfach unwahrscheinlicher sein, dass durch die Prinzipien von Urknall und Evolutionstheorie der Mensch entstehen konnte, als alle Legenden über den Apostel Jakob zusammen.
Das Unheil des Sozialdarwinismus
Nach der Evolutionstheorie entstehen und entwickeln sich alle Lebensformen auf der Erde nach dem Prinzip der zufälligen Mutation und Selektion durch die Regel „Survival of the fittest“ („Überleben des Stärkeren“). Darüber könnte man viele Nächte am Stammtisch diskutieren, so wie Darwin damit zunächst mit großem Erfolg die langweiligen Tea-Time-Plaudereien der englischen Aristokratie bereicherte.
Doch passten Darwins Theorien sehr gut in das neue Selbstbewusstsein des British Empires und der anderen Kolonialmächte. Aus dem Darwinismus entwickelte sich rasch der Sozialdarwinismus, der die großen Tyrannen des 20. Jahrhunderts inspirierte und maßgeblich für den Tod von über hundert Millionen Menschen verantwortlich ist. Denn auf dem Glauben des Sozialdarwinismus gründete sich der Faschismus und der Stalinismus. Der bekannte jüdische Autor und Ex-Kommunist Artur Köstler weist darauf hin, dass diese beiden atheistischen Ideologien in 50 Jahren viel mehr Leute umgebracht haben, als die katholische Kirche in den vergangenen 2.000 Jahren. Eigentlich kein Wunder und nur konsequent: Bei dem einen gilt das brutale Recht des Stärkeren, während im Christentum dieser natürliche Drang des „Tieres im Menschen“ durch das Prinzip der Nächstenliebe zumindest abgemildert wird.
Vorübergehend konnten wir Menschen uns hinter der Fassade von weltlicher Moral verstecken, bis sich in zwei Weltkriegen und in den atheistisch-sozialdarwinistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts das wahre Gesicht des entseelten Menschen zeigte. (Das soll übrigens nicht heißen, dass die ganze Evolutionstheorie falsch wäre und es genauso ablief, wie die Kreationisten es behaupten. Die Wahrheit ist komplexer und beide haben wohl in Teilen recht und unrecht. Evolutionsbiologen versprechen es seit Jahrzehnten, aber es ist ihnen bis heute nicht gelungen, aus anorganischer Materie im Labor höhere Lebensformen zu erschaffen. Erst damit wird die Theorie belegt und ist ein Beweis und damit echte reproduzierbare Wissenschaft. Bislang ist es eine Hypothese, wie so viele.)
Die Evolutionstheorie wie auch die Schöpfungsgeschichte berufen sich also letztlich auf den Glauben und Behauptungen. Also bleibt alles eine Hypothese.
Letztendlich geht es wieder um die alleinige Frage: An was will ich glauben?
Verständliche Rebellion, aber …
Natürlich kann man in Santiago auch die erdrückende Macht der Kirche spüren und verstehen, warum intelligente Menschen zunehmend dagegen rebellierten. Doch die daraus entstandenen Alternativen wie Kapitalismus und Sozialismus sind keine wesentliche Verbesserung. In einem herrscht die Diktatur des Volkes, im anderen die des Geldes.
Was wir dringend brauchen …
Was wir dringend brauchen, ist eine Integration von Wissenschaft, Glauben und Ethik in einem sinnerfüllenden Miteinander, eine „Gewissenschaft“.
Meine Besuche an den großen Pilgerorten dieser Welt überzeugten mich, dass es viel mehr Gemeinsamkeiten in Sachen Glauben gibt als Unterschiede. Erstaunlich ist nur, wie man sich wegen der peripheren Unterschiede so bekriegen kann? Das ist aber wohl eher eine Charakter- als Glaubensfrage. Die meisten Pilger auf dem Jakobsweg sind sehr nett. Da pilgere ich gerne mit und glaube auch mal an die Legende vom Apostel Jakob, im Sinne eines gesunden „Glaubenstrainings“. Auch ist mir eine Lebensphilosophie, die auf Liebe basiert, lieber als das Recht des Stärkeren. Dieses Recht galt schon in der Steinzeit und ist damit schlichtweg nur eines: ein gewaltiger geistiger Rückschritt unserer Zivilisation!
Letztendlich müssen wir uns alle die Grundsatzfrage stellen!
Wollen wir in einem plan- und sinnlosen, darwinistischen Universum leben, wo wir dem blinden Zufall ausgeliefert sind, letztlich einsam und angstvoll auf den Tod warten, während wir uns in der Zwischenzeit mit Arbeit, Vergnügungen, Alkohol und Konsum ablenken?
Oder wollen wir an einen höheren Sinn, an eine höhere Kraft oder höchste Person glauben, innerlich erfüllt leben und handeln? Dazwischen gibt es nicht viel, denn es gibt keine Werte und auch keinen Sinn im blinden und entseelten Universum, wo nur das Überleben des Stärkeren gilt.
Auf welchem Glauben gründen Sie insgeheim Ihr Leben? Und macht Sie dieser Glaube glücklich?
Denn Ihre inneren Glaubenssätze bestimmen Ihr Leben. Je unbewusster, desto mehr!
Tipps für Veganer auf dem Jakobsweg:
Übergewichtige Veganer: ganz super, einfach loslaufen, alles wird gut!!
Unter- und normalgewichtige Veganer: unbedingt Proviant einpacken und Wirte nerven!
Hier noch eine Anregung an gläubige Christen: Warum nicht das Prinzip Nächstenliebe auf alle Geschöpfe ausweiten, so wie dies Jesus, Franziskus und auch andere Religionen vorgelebt haben? Wenig bekannt, aber gut belegt: Jesus folgte dem Kalender der Essēner und feierte sein letztes Mahl vor dem traditionellen Paschafest der Juden. Die Essēner waren Vegetarier, daher gab es auch kein Lamm zum Paschafest wie bei den anderen Juden. Jesus brach das Brot mit seinen Jüngern.
Davon abgesehen: Es ist offensichtlich, dass andere Wesen ähnlich fühlen wie wir. Nicht nur Hunde, auch Lämmer, Kühe, Schweine und Hühner.
Und ein Appell an die Wirte unterwegs: Más comidas veganas y vegetarianos, por favor! ¡Gracias!
Buen Camino!
Eine Antwort
Das ist ein grossartiger Artikel. Ich bin begeistert und kann bei dieser Gelegenheit auch auf Pierre Teilhard de Chardin hinweisen, der über den Unterschied zwischen Religión und Spiritualität schrieb. Herzliche Gruesse und vielen Dank